Ostfriesland

Sommer, flache Weiden, Windmühlen, Wegweiser nach Holland und die Nordsee. Ich war noch nie in Ostfriesland und verband die Region eigentlich nur mit den Ostfriesenwitzen meiner Kindheit.  In einem kleinen Dorf in einer grossen Scheune voll von Webstühlen, Webausrüstung und Garn stand der Handjacquardvevstol, den ich nach einem Tipp von Hermann Wendlinger hatte kaufen können.

Es war nicht der erste Webstuhl, den wir zügelten, aber bei Weitem der Komplizierteste. Erstens wegen der totalen Höhe (3.20) und zweitens wegen dem Gewicht. Die sehr zuvorkommende Eigentümerin hatte zwei hilfsbereite und starke Nachbarn organisiert, die uns halfen, die Jacquardmaschine herunterzuheben und die massive Lochkartenschlagmaschine aus der Scheune in den Zügelwagen zu tragen. Wir waren mit dem Zug nach Münster gereist, hatten dort einen Kastenwagen gemietet, um das Ganze die fast tausend Kilometer zurück in die Schweiz zu transportieren.

Der Webstuhl hatte alles, was ich mir wünschen konnte und mehr dazu: 400er Jacquardmaschine, Warenbaumregulator, zwei Kettbäume, und Schnellschusslade, d. h. eine Wechsellade für drei Schützen. Er war aus den fünfziger Jahren, hergestellt von der Firma Arm AG in Biglen im Emmental, die für ihre ausserordentliche Qualität und Funktionalität bekannt war. Ich kontaktierte Frau Marianna Haller-Arm, die jetzt die Restposten der Firma verkauft. Sie konnte sich an die Jacquardwebstühle noch erinnern, aber Baupläne gab es keine mehr. Die Handjacquardwebstühle waren teuer in der Fabrikation, die Nachfrage war klein und es wurden dazumal nur wenige hergestellt. Wo der Webstuhl überall gewesen war, bevor er in der ostfriesischen Scheune eingelagert wurde, weiss niemand. Auf einem Balken steht möglicherweise: «Erica Brugger», oder vielleicht auch nicht. Ein Kettbaum ist auf Italienisch angeschrieben, ich kann «Secondo fuori, … dentro» entziffern.

Das Alter der Lochkartenschlagmasschine ist ungewiss, aber ich nehme an, sie wurde vor dem Krieg hergestellt. Auf der Plakette steht: «Oskar Schleicher, Greiz i. V. Maschinenfabrik und Eisengiesserei». Infolge Wikipedia war Greiz im Vogtland ein Zentrum der Textilindustrie, der Textilmaschinenindustrie und ihrer Zulieferer. Schon vor 1890 hatte es über 11’000 mechanische Webstühle in der Stadt. Die Oskar Schleicher AG stellte Damast- und Jacquardwebstühle her, und betrieb eine Eisengiesserei und -drechslerei. Als ich schnell auf Google suchte, fand ich antiquarische Kataloge. Nach dem Krieg wurde die Firma entschädigungslos enteignet.

Aber warum einen Handjacquardwebstuhl anschaffen?
Erstens, weil es fast keine mehr gibt und weil darum die Technik und das Wissen für die Handweberei vom Verschwinden bedroht ist. Jacquard ist zwar Standard in der Industrie, aber als Handweber kann man weder die Webstühle noch deren Teile länger kaufen. Die Steuerung von einzelnen Fäden gibt ausserdem unendliche Möglichkeiten für Musterung.

Zweitens: Im Frühling 2020 hatte ich das norwegische Volkskunststipendium zugeteilt bekommen für ein Projekt über die Stoffe aus Norwich. Ich wollte versuchen, einige der Bindungen nachzuweben. Die Weber von Norwich arbeiteten auf grossen Damastwebstühlen mit zwei Webern. Die Webstühle gibt es nicht mehr und ausserdem bin ich nur eine Person. Man könnte versuchen, die Muster von Hand einzulesen, was aber vollständig unrealistisch ist. Die Jacquardtechnik ist darum die beste Lösung, obwohl auch sie ihre Tücken und Begrenzungen hat.

Der Webstuhl hatte 20 Jahre lang ungebraucht in einer etwas feuchten Scheune gestanden. Das Holz war dreckig und roch nach Moder, alle Metallteile waren rostrot und die Gallierschnüre waren brüchig. Es fehlten acht Platinen, aber die fanden wir zum Glück in einer Schachtel. Andere Teile aber fehlten oder mussten ersetzt werden:

-         Eine Jacquardnadel

-         Steife Schnur für die fehlenden Strupfen, ca. 1 mm dick, am besten Naturfaser

-         Gallierschnüre

-         Gallierbrettchen in der richtigen Dichte

-         Ein neuer Rahmen für die neuen Gallierbrettchen.

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