Elverum

Ich war noch nie in Elverum gewesen, und ich war unsicher, wo die Stadt lag. Nach 31 Jahren im 1500 km entfernten Nordnorwegen waren meine Kenntnisse der südnorwegischen Geografie eher gering, so gering, dass Südostnorwegen sich auch im Ausland hätte befinden können. Im Juni flog ich nach Oslo-Gardermoen, meine erste Flugreise in vielen Monaten. Der Flughafen war menschenleer und die Geschäfte geschlossen, es herrschte eine seltsame, fast geisterhafte Atmosphäre. Ich nahm den Zug nach Hamar und den nächsten nach Elverum, und spazierte dem Fluss entlang nach Glomdalsmuseet, dem Museum für das Tal der Glomma.


Das Museum und die vielfältigen Ausstellungen sind wirklich eine Reise wert: Militärgeschichte und die dramatischen Ereignisse im Frühjahr 1940, die Flucht der norwegischen Regierung, die  Zerbombung von Elverum und das Leiden der Lokalbevölkerung. Die grosse Ausstellung Latjo Drom, über die Kulturgeschichte der Fahrenden in Norwegen, eine altmodische Apotheke mit allem drum and und dran und der Hausarzt und die Hebamme vor 100 Jahren. Möbel- und Stilgeschichte und ein Raum mit Brautkleidern aus verschiedenen Zeiten. Ausserdem befindet sich das drittgrösste Freilichtmuseum von Norwegen in Glomdalsmuseet, eine grosse Sammlung alter Wohnhäuser, Ställe und Speicher aus der Region.

 

Aber eigentlich war ich ja gar nicht da, um die Ausstellungen zu besuchen, ich hatte eine Verabredung mit Dr. Bjørn Sverre Hol Haugen und Trachtenschneiderin Anny Strand im Archiv. Im Frühling hatte ich ein einjähriges Stipendium vom norwegischen Kulturfonds zugeteilt bekommen, ein sogenanntes Volkskunststipendium, um mich näher mit Bindungen und Techniken in den Stoffen von Norwich zu befassen. In Elverum sind sehr viele Kleider, die im 18. Jahrhundert aus diesen englischen Textilien genäht wurden, bewahrt: Gilets, Jacken, Jupes, Umhänge, Hauben und Taschen.


Auch nach mehreren hundert Jahren Lagerung und langjährigen Gebrauch als Kleidung, sind die Stoffe noch atemberaubend. Die Farben sind klar und leuchtend und es ist für mich unbegreiflich, wie die Meister von Norwich so grosse und komplizierte Musterrapporte auf Handwebstühlen herstellen konnten. Hingegen ist es nicht schwierig zu verstehen, dass die Norweger von damals Unsummen auf den Tisch legten, um wenige Ellen dieser Stoffe zu ergattern. Die kostbaren Textilien wurden immer wieder verwertet, die ganz kaputten Teile des Kleidungsstückes wurden weggeschnitten, und was man noch brauchen konnte, wurde zu einem Kinderkleid, einer Haube, oder ein Teil eines neuen Gewands. In einer Zeit, in der gewöhnliche Menschen braune, graue und dreckig weisse Kleidung trugen, sah man die bunten, glänzigen Stoffe von weitem und erkannte den Stand und den Reichtum ihrer Träger sofort. Die Stoffe wurden bei den Grossbauern und Handelsleuten so beliebt, dass der dänische König 1783 schon wieder eine neue Kleidervorschrift erliess (Norwegen war von 1397 bis 1814 unter dänischer Herrschaft). Damit wurde den Bauern verboten, importierte Textilien zu kaufen, stattdessen sollte der Bauerstand von jetzt an alle Stoffe selber herstellen, um die einheimische Wirtschaft anzukurbeln.

Quelle: “Virkningsfulle tekstiler – i østnorske bønders draktpraksiser på 1700-tallet”, Bjørn Sverre Hol Haugen, 2014

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