Norwich

Es fühlt sich an, als wäre es so lange her, dabei ist es nur wenig mehr als ein Jahr. Ich wollte unbedingt nach Norwich in England reisen, um die bekannten Kammgarntekstilien im Museumsarchiv anzuschauen und unsere Teenagetochter wollte endlich mal nach London. An einem Sonntag Ende Juni nahmen wir den Bus von Tromsø, Nordnorwegen nach Narvik und dann weiter mit dem Zug über Stockholm, Kopenhagen, Hamburg und Brüssel nach England und ganz zuletzt über Frankreich in die Schweiz. Heute wäre diese Reise unmöglich wegen Einreiserestriktionen, Quarantäneregeln und Infektionsrisiko.

 

Warum gerade Norwich? Diese Stadt in East Anglia war während Jahrhunderten ein Zentrum der Textilproduktion und Mitte des 18. Jahrhunderts arbeiteten mehrere Zehntausend in der Textilindustrie. Auf den grünen Hügeln der Midlands weideten die Lincoln Longwool Schafe, eine Rasse mit langem, glatten und glänzigen Fell. Die Wolle wurde von den Frauden und Kindern der Bauern und Taglöhnern gekämmt und versponnen, von den berühmten Färbern am Fluss gefärbt und dann an die Handweber verkauft, die alle möglichen denkbaren Stoffe herstellten, von einfachen Leinwandstoffen zu bunten, gross und kompliziert gemusterten Prunkstücken.  Die Kaufmänner der Stadt exportierten die fertigen Stoffballen nach Nord- und Südamerika, nach China und natürlich nach ganz Europa, und auch nach Norwegen.

 

Die Bürger der Stadt Norwich waren tolerant und gesinnt und gewährten Asyl für verfolgte Protestanten aus Belgien und Holland unter den Reformationskriegen und der Gegenreformation. Noch heutzutage sind einige Häuser mit Dächern im sogenannten Dutch style erhalten. Die Flüchtlinge waren oft Weber und brachten neues Wissen und Technologie nach Norwich, was wesentlich zum Aufstieg der Stadt zur Textilmetropole beitrug.

 

Im Study Center von Norwich castle traf ich Cathy Terry, Ruth Battersby-Tooke und Dr. Michael Nix. Die Kaufleute verkauften natürlich den ganzen Stoffvorrat und im Museumsarchiv hatte es nicht mehr viele Textilien, vor allem aber Bücher mit Stoffmusterproben, mit denen die Handelsagenten in aller Welt herumreisten. Die noch bewahrten Stoffe jedoch waren atemberaubend: starke Farben, glänzende Oberflächen und äusserst komplizierte Muster mit riesigen Rapporten.

 

Dr. Michael Nix war ausgesprochen zuvorkommend und hat mich noch auf eine Stadtführung mitgenommen. Noch heute kann man gut sehen, wo die Handweber wohnten. Sie wohnten im obersten Stock, unter den hohen Dächern, wo die grossen Webstühle genug Platz hatten und wo genug natüliches Licht durch die Fenster hereinfiel.  Für einen Augenblick konnte ich mir das damalige Stadtleben vorstellen: die Gossen und das Kopfsteinpflaster, Pferde und Wagen, Meister, Lehrlinge und Gesellen, Bauern, Kaufmänner und reisende Handelsleute, die Farbbäder der Färber am Fluss, der Dampf und Rauch von den heissen Stoffpressen und die grossen Stoffballen, die bald in alle Welt verschifft würden.

 

Hier noch einige Fotos, die hoffentlich einen kleinen Eindruck von dieser interessanten Stadt vermitteln:
- die Strassen aus dem Spätmittelalter
- die Wohnungen der Weber hoch oben unter dem Dach
- die Kathedrale
- der Grabstein von John Tuthill, einem bekannten Kaufmann
- die Häuser im holländischen Stil
- Norwich Castle

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